10|25 TRÜMMER SIND MEINE KARRIERELEITER
Von der Trümmerfrau zur Powerfrau
Trümmerfrau. Kein schönes Wort. Die Bilder, die es vor dem geistigen Auge hervorruft, sind die magerer Frauen in schäbiger Kleidung, mit zerzausten Haaren und verhärmten Gesichtern, inmitten von Ruinen, die einmal ihre Heimatstadt waren. Keine von ihnen hat im Krieg auch nur einen Schuss abgegeben oder den Befehl dazu erteilt. Tragen müssen sie die Konsequenzen dennoch. Und sie tun noch mehr: sie schaffen Ordnung, räumen die Trümmer beiseite, bauen wieder auf, um den Weg für die Zukunft – hoffentlich eine friedliche! – zu bereiten.
Das sind die Trümmerfrauen nach dem Ende der Zweiten Weltkriegs im kollektiven Gedächtnis Deutschlands. Aber man findet sie auch auf einem anderen, heiß umkämpften Terrain, auf dem zwar nicht mit Patronen, aber dafür oft mit Worten scharf geschossen wird: der Politik.
„Trümmerfrauen“ werden in der medialen Präsentation von der Politik gern Frauen genannt, die erst dann ein politisches Amt erlangen, nachdem männliche Politiker gescheitert oder wegen eines Skandals in Misskredit geraten sind, heißt es auf der Seite der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft. Heide Simonis fasste diesen Sachverhalt einmal folgendermaßen zusammen: „Sie werden als Frau immer nur dann etwas, wenn Männer eine Sache in den Sand gesetzt haben.“ Und sie sprach aus Erfahrung. Denn erst nachdem Björn Engholm im Zuge der Barschel-Affäre als Landesvater von Schleswig-Holstein von seinem Amt zurückgetreten war, bekam sie die Chance und wurde 1993 die erste Ministerpräsidentin der Bundesrepublik.
Doch sie steht nicht allein. Nach Simonis‘ Definition könnte man auch Angela Merkel als „Trümmerfrau“ bezeichnen. Die Hartz-IV-Reform hatte ihrem Vorgänger, Gerhard Schröder, erheblich geschadet und seiner Partei einer Zerreißprobe beschert. Als er mit seiner Vertrauensfrage Neuwahlen provozierte, verkalkulierte er sich – und unterlag. So bekam Deutschland seine erste Bundeskanzlerin überhaupt.
Allerdings, so schreibt die GEW, ignoriere der Begriff "Trümmerfrau" die Kompetenz, Leistung und Glaubwürdigkeit dieser Frauen. Sie müssen ja erst zur Führungsreserve vorgedrungen sein, bevor sie von einem Skandal profitieren können. Das taten sowohl Simonis als auch Merkel. Simonis war zuvor Finanzministerin und wurde wegen ihre Fähigkeiten geschätzt. Merkel wiederum stieg, oft verächtlich als „Kohls Mädchen“ betitelt, die Karriereleiter in der CDU hinauf. Was solche Politikerinnen auszeichne, sei die Fähigkeit, ein Machtvakuum zu erkennen und für die eigene Karriere zu nutzen, so die GEW.
Hätten Simonis und Merkel jedoch keinerlei Kompetenzen vorweisen können, hätten sie ihr Amt bei der darauffolgenden Wahl wohl wieder abgeben müssen. Aber sie blieben. Simonis konnte am Ende auf zwölf, Merkel sogar auf 16 Jahre zurückblicken. Nur Helmut Kohl war länger im Amt des Bundeskanzlers - allerdings auch nur neun Tage. Somit fügen sich die beiden Politikerinnen geradezu wie Musterbeispiele in die Schilderungen der GEW, die schreibt, dass die „Trümmerfrauen“ sich im Gegensatz zu den skandalgeschüttelten Polit-Machos durch Glaubwürdigkeit und Kompetenz auszeichneten. Simonis und Merkel machen Mut und beweisen: Wer als „Trümmerfrau“ die politische Bühne betritt, kann sie als Powerfrau verlassen!
Quellen:
https://www.tagesspiegel.de - Nachruf auf Heide Simonis
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/32714943_misstrauensvotum07-204182
https://www.gew.de/gleichstellung/frauenpolitik/truemmerfrauen
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